+6

Wir sind doch viel europäischer, als man uns weismachen will


Foto: Alejandro EscamillaWelche Rolle spielen nationale Grenzen noch, in einer digitalen Gesellschaft? Foto: Alejandro Escamilla (CC0)

Seit vielen Jahren die gleiche Leier: die europäische Öffentlichkeit gibt es nicht und wird es nie geben. Was für ein Quatsch, meint Alex. Hat er Recht?


Ein Beitrag von Alexander Wragge

Kaum ein Tag vergeht gerade ohne EU-Untergangsszenario. Kaum ein Tag vergeht ohne Europa-Neugestaltungs-Manifest. Die EU-Gipfel-Politik mag ja gerade spannend sein wie nie. Noch viel spannender finde ich allerdings die Frage, was wir als BürgerInnen aus unserem Europa machen. Trauen wir uns selbst eine postnationale europäische Zukunft zu – ja oder nein? Kann die junge Generation die europäische Gesellschaft zusammenbauen, an die viele Ältere nicht (mehr) glauben?

Fundament einer solchen Gesellschaft wäre eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit. Pessimisten haben hier alle Hoffnung aufgegeben. So wiederholt aktuell Henrik Müller auf Spiegel Online einen uralten Allgemeinplatz:

"(...) es gibt kein europäisches Volk. Es gibt auch keine breit genutzten europaweiten Medien, mit denen eine grenzüberwindende Verständigung, öffentliche Kontrolle und Willensbildung möglich wäre."

Ich selbst kann dieser Beobachtung nicht ganz zustimmen. Was die klassischen Medien betrifft - natürlich sind Politico, EUObserver, treffpunkteuropa.de, OneEurope, Eurotopics usw. keine Massenmedien a la BILD-Zeitung (und nebenbei: welche Jüngeren lesen eigentlich noch die BILD?). Andererseits: ist nicht zum Beispiel der Guardian längst ein postnational europäisches, sogar globales Medium, in dessen Kommentarforen sich die ganze Welt unterhält?

Wir sind doch viel weiter, als man uns weismachen will

In den sozialen Netzwerken werden die Ländergrenzen schon tagtäglich millionenfach ignoriert. Ich lese laufend Postings von Spaniern, Franzosen, Italienern, Norwegern, Briten, ohne noch groß drüber nachzudenken. Alle sind nur noch einen Klick entfernt. Alle sind längst gleichberechtigte Stimmen im großen Stream an Inhalten, sind Teil unserer gemeinsamen digitalen Gesellschaft, die keine Grenzen kennt. Ein Jean-Claude Juncker genauso wie ein Yanis Varoufakis.

Uns trennen vielleicht noch politische Ansichten und Prioritäten, aber doch nicht mehr die Nationalität - oder? Ich wüßte jedenfalls nicht, warum Junckers Luxemburger-Sein oder Varoufakis' Grieche-Sein noch wichtig wären, wenn über die Zukunft der EU gestritten wird. Da ist doch die jeweilige Weltanschauung viel entscheidender. Und an europäischem Aktivismus und an Vernetzung fehlt es aktuell nun wirklich nicht mehr (Beispiel).

Treffen sich ein Franzose, ein Grieche, ein Brite und ein Deutscher in einem Forum. Das ist schon lange nicht mehr der Beginn eines Witzes, sondern ein ganz realer Vorgang.

Jedenfalls, das soll hier kein neues Pamphlet werden, sondern ein offener Kanal für das gemeinsame Gespräch. Ich möchte gerne von Dir persönlich wissen:

Wie europäisch ist Deine (digitale) Lebenswelt bereits? Fühlst Du Dich schon als Teil einer europäischen Öffentlichkeit - und falls nicht, was hindert Dich noch daran?


Links rund um's Thema


Kommentare

  • Lisa@PolicyLab ist dafür
    +3

    Interessantes Thema, Alex! Beim Stichwort "The Guardian" ist mir tatsächlich bewusst geworden, dass ich mich vor allem durch meine Facebook-Timeline digital schon ziemlich europäisch bewege - neben dem Guardian und the Economist habe ich zum Beispiel schwedische Zeitungen und Organisationen "geliket" - und daneben tauchen lokale Infos, nationale Infos (wie die FB-Seite der Bundesregierung) und "offiziell europäische" Seiten wie die EU-Institutionen auf. Alles in allem ein guter Mix. Sprache ist natürlich ein Hindernis, aber ich finde gar nicht so sehr wie man denkt - zumindest bei FB kann man sich ja Beiträge und Kommentare übersetzen lassen, ist nicht perfekt aber meist versteht man, worum es geht ;)

    Ein kleines "aber" kommt zum Schluss: ist das nur wieder diese Europa-Blase, in der ich mich bewege?

    • Ja cool! Mir geht es ähnlich. Gerade klebe ich dem genial geschriebenen Polit-Journalismus von Vox.com via Facebook an den Lippen, und muss mich immer wieder dran erinnern, dass ich bei den US-Wahlen keine Stimme hab, mich also besser auf Europa konzentriere :).

      Also diese große Entgrenzung der Öffentlichkeit hat längst stattgefunden. Das wird aber meines Erachtens im Diskurs über die Europäische Öffentlichkeit kaum nachvollzogen, wo wir immer wieder in die Betrachtung nationaler Mediensysteme zurückfallen.

      Ich möchte auch gern mal wissen, wieviele Millionen weltweit sich schon ihren nationalen Sendern und Öffentlichkeiten entziehen, indem sie Nacht für Nacht Netflix gucken :)

      Wir haben die Chancen noch immer nicht begriffen

      Und manchmal finde ich es komisch. Alle Möglichkeiten sind schon da. Wir können jederzeit mit allen reden und gemeinsam arbeiten, mit allen Europäern, jetzt sofort. Trotzdem halten wir oft innerlich fest an alten Vorstellungen der Distanz, so als wären Griechenland oder Ungarn noch weit weg, etwas fremdes, anderes. All diese Gesellschaften sind ein Skypegespräch oder einen Klick entfernt. Wir nutzen das nur noch nicht radikal aus.

      Was die Europa-Blase betrifft - sie ist bestimmt eine eigene "Echokammer" auf Facebook :) Ich selbst habe bestimmt 20 Europa-NGOs geliket, meine Timeline sieht entsprechend aus. Aber das würde ich wieder eher als Chance denn als Problem sehen. Dann muss die Europa-Bubble eben noch attraktiver für alle werden.

  • FischiTheFish ist dagegen
    +2

    Denkt bitte auch an die Omi, die ihre regionale Tageszeitung liest, den regionalen Radiosender (ala "SWR4 - Baden-Wuerttemberg: Da sind wir daheim") hoert und abends vor dem Fernseher nur die Programmknoepfe 1, 2 und 3 braucht. Oder der Handwerker, der ganz klischeehaft die BILD liest, Hitradio hoert und abends dann die privaten schaut.

    Es sind nicht alle Menschen Digitalnatives und haengen nach Feierabend in FB rum und lesen Onlineartikel. Hier findet nicht das wahre leben statt. Aeltere Menschen, praktisch Veranlagte, Sportler, Gamer und noch viele mehr haben vilefach einfach kein Bock Stunden lang iwas zu lesen.

    Und dann kommt noch die Sprachbariere hinzu. Ihr liegt mit Eurer Vermutung der Europa-Bubble schon ziemlich richtig. Den meisten Menschen (also der unpolitischen Masse) ist Europa ziemlich egal wenn sie s nicht gerade selber betrifft.

    • Hallo FischiTheFish, danke für den Hinweis! Tatsächlich argumentiere ich auch eher von den Möglichkeiten her. Natürlich leben die meisten Menschen nicht in einer europäischen Öffentlichkeit, ich auch nur teilweise. Die Sprachbarriere ist tatsächlich das große Ding, wer kann schon Artikel auf Griechisch, Italienisch, Finnisch und so weiter lesen.

      Was mich allerdings ärgert ist, wenn wir die Möglichkeiten der digitalen Gesellschaft nicht sehen, miteinander Öffentlichkeit herzustellen. Wir erleben die größte Transformation von Öffentlichkeit seit dem Buchdruck, mindestens, der übrigens auch dazu führte, dass Menschen in allen möglichen Ländern die europäische Aufklärung in die Welt setzten, das Meinungsmonopol von Kirche und Obrigkeit davonfegten. Auch damals war das Misstrauen groß, sollten die "kleinen Leute" nicht besser dumm bleiben? Am Ende verloren Kaiser und Kirche alles an Macht. Gut so.

      Und Du schreibst: "Den meisten Menschen (also der unpolitischen Masse) ist Europa ziemlich egal wenn sie s nicht gerade selber betrifft."

      Der Witz ist ja, Europa betrifft uns alle direkt und ständig selbst. Die 'Omi' genauso wie den Gamer und den Handwerker. Jede Entscheidung, von der Finanzmarktregulierung bis zum Datenschutz oder der Zuwanderung hat direkte Auswirkung auf ihr Leben. Ich wüsste auch gar nicht welche politische Entscheidung BürgerInnen nicht betreffen könnte. Wenn sie sich dessen nicht bewusst sind, fallen sie für den europäischen Meinungsfindungsprozess einfach mal aus.

      Die nationale Politik kann damit sehr gut leben, dass die Menschen die EU-Politik nicht interessiert. So kann sie schalten und walten, ab und zu die Nationen etwas gegeneinander auspielen (Deutschland vs. Griechenland). Was aber so niemals in den Blick gerät, ist die Frage, welche Interessen an der EU der Handwerker in Griechenland und der Handwerker in Finnland teilen, die Omi in Italien und die in Polen, was im gesamteuropäischen Sinn das Beste ist. Darüber findet keine Verständigung statt. Dabei ist sie - siehe Text - technisch so leicht möglich wie nie.

  • Für mich ist es nur die Sprache ein Hindernis. Außerdem könnten Europa-Artikel auf die europäischen Bürger hin geschrieben sein, nicht auf Deutsche, Italiener ...

    • Danke, Alexander Wragge, für Deinen Beitrag. Auf der Ebene der Kommunikation, der digitalen Vernetzung gilt er sicher, was die junge Generation in Europa angeht.

      Dein Beitrag entspricht m.E. der Europa-Hymne, der das Gedicht von F.von Schiller "An die Freude" und der die Vertonung durch L.van Beethoven zugrunde liegt. Du meinst, sie entspricht schon dem Lebensgefühl der jungen europäischen Generation?

      M.E. ist sie doch eher noch eine Vision. Rauschhaft, idealistisch. Ein schönes Fernziel. Realismus in der Gegenwart, kleine Schritte, können, denke ich, verhindern, dass dieses Fernziel kippt und in sein Gegenteil verkehrt wird.

      Will damit sagen, der Mensch ist nicht nur gut. Homo homini lupus est. Es gibt den Egoismus des Einzelnen, von Familien, von Berufsgruppen und nationale Egoismen. Es gibt das Leben der Einen auf Kosten der Andern. Es gibt die Ausbeutung und das Streben nach Herrschaft und Unterdrückung.

      Gebändigt wird der Egoismus durch Gesetze. Den größtmöglichen Rahmen dafür gibt m.E. die Nation ab.

      Ich leide, ehrlich gesagt, auch gar nicht so unter den nationalen Grenzen in Europa wie Du. (Allerdings darf das Schengen-Abkommen und die gemeinsame Währung nicht rückgängig gemacht werden!). Die Vielfalt in der Einheit ist für mich attraktiver, prickelnder, sich gegenseitig befruchtender, zur Kreativität reizender als ein Europa ohne nationale Eigenheiten sprich: ohne jegliche nationale Identitäten. Leben nicht auch internationale Freundschaften von der Verschiedenheit der Freunde und machen sie dadurch so anziehend? "Treffen sich ein Franzose, ein Brite, ein Grieche und ein Deutscher"...ja, das ist spannend. Wenn sie sich nicht mehr als Franzose, Brite, Grieche und Deutscher treffen, ist es langweilig.

      Das ist ein Votum für die EU. Möglicherweise auch für die Abgabe weiterer, bisher nationaler Souveränitätsbereiche an die EU, aber nicht für das Aufgehen in einem einheitlichen, nicht mehr bunten Europa. Wenn man verschiedene Farben zusammen mischt, ergibt das Grau.

      • Wovor genau haben wir so viel Angst?

        Hallo Doro! mag sein, dass ich hier gerade als Digital-Europa-Evangelist und Euphoriker unterwegs bin, aber an Pessimismus, Risiko-Aversion. Mutlosigkeit und Fatalismus haben wir schon genug in der Debatte oder?

        Das vereinte Europa selbst war eine utopische Vorstellung, ein absolut unrealistischer Wahnsinn, noch 1914, noch 1942. Jedenfalls wir können hier sitzen und uns alle Träume abschminken, zum Fernziel erklären und auf Godot warten, oder wir können anfangen, an der Realisierung unserer Träume zu arbeiten. So haben das die GestalterInnen unser heutigen Bundesrepublik und unserer heutigen EU (die nicht perfekt aber doch schon gut ist) auch getan. Es ist #UnsereZeit.

        Und dass die Menschen schlecht sind - ich weiß nicht. Für mich hat Politik die Aufgabe einen Rahmen zu schaffen, der es den Menschen erlaubt, gut zu sein.

        Und was die Vielfalt betrifft. Ich wüsste nicht, wie ein gemeinsames Staatswesen, zum Beispiel gemeinsame Sozialversicherungssysteme und transnationale Wahlen die Vielfalt in Europa bedrohen. Hat die Bundesrepublik das bayrische Brauchtum zerstört, oder die Hamburger Fischkopp-Kultur?

        Wenn wir uns an die nationale Kultur klammern, was ja unser gutes Recht ist, dann sollten wir schon genau sagen, wodurch diese eigentlich in Gefahr gerät. Was die Werte betrift, so teilen wir in der EU schon die Grundsätzlichen. Die EU-Grundrechte-Charta: "Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte" ist doch das Grundgesetz in Grün, etwas überspitzt formuliert.

        Auch die meisten Politikfelder werden schon auf EU-Ebene abgesteckt. Was hat denn der Bundestag noch alleine zu entscheiden? Das Betreuungsgeld? Die PKW-Maut.. ach nein, die verstößt ja gegen EU-Recht.

        Und wovor müssen wir eigentlich ständig so viel Angst haben? Ich kenne kein Modell von EU-Staatlichkeit, das die Vielfalt in Europa nicht garantieren, ja sogar abfeiern würde.

        Ich kann verstehen, dass man sich in Transformationszeiten an dem festhält, was man hat. Das Ding ist nur, dass europäische Kooperation und Kollaboration gerade in Transformationszeiten die besten Chancen zur Krisenbewältigung bieten könnte.

        Was mich mittlerweile wirklich nervt: wie in der öffentlichen Debatte a la Hart aber fair unsere längst europäisierte Lebensrealität konsquent verdängt wird. Da wird immer noch ein deutsches Lagerfeuer simuliert, an dem wir uns nun alle erwärmen sollen. Mag sein, dass es das 50+Publikum nicht anders will, nicht anders ertragen würde. Das heißt aber nach lange nicht, dass die Jüngeren da noch mitmachen müssen, wenn sie im Netz ein europäisches Lagerfeuer anzünden können.

  • Hallo Alexander Wragge,

    ich nehme als „europäisch“ mal Europa außer Deutschland.

    Wie europäisch ist Deine (digitale) Lebenswelt bereits?

    Wenig. Wenn ich was von außerhalb Deutschlands wahrnehme dann oft gleich aus aller Welt und nicht speziell Europa, z.B. Musik aus den USA.

    Fühlst Du Dich schon als Teil einer europäischen Öffentlichkeit

    Eher nicht.

    und falls nicht, was hindert Dich noch daran?

    Sprache. Sprache. Sprache. Kann halt kein Polnisch. Und mir fehlen die richtigen Medienangebote.

    Gedanken zu einem gesamteuropäischen Medienangebot (www.mister-ede.de – 13.12.2014)