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Wie wir uns endlich um unsere EU-Politik streiten


Foto:dpaDeutschlands Top-Talker laden dazu ein, über wichtige EU-Entscheidungen zu streiten - und zwar noch bevor diese gefallen sind. Muss das ein völlig abwegiges Szenario bleiben? Im Bild: Frank Plasberg, Sandra Maischberger, Günther Jauch, Anne Will. Foto: dpa.


Vom Datenschutz bis zum Warnhinweis auf der Zigarettenschachtel - eigentlich müssten wir lang und breit um die beste EU-Politik streiten. Warum wir das nicht tun, und wie wir damit anfangen könnten, wollte ich bei der Europawerkstatt der JEF und hier auf Publixphere herausfinden. Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick.


Ein Beitrag von Alexander Wragge, Redaktion

Echter Streit um politische Alternativen wäre der Kern einer lebendigen EU-Demokratie. Malen wir uns das mal aus: Europas Bürger ringen um ihre EU-Poltik - in der Landwirschaft, auf dem Finanzmarkt, in der digitalen Welt. Sie wissen, was Parteien und Regierungen tun und was nicht – in Punkto Flüchtlingshilfe, Energieeffizienz oder Forschungsförderung. Sie fiebern mit, regen sich auf, artikulieren ihre Interessen. Sie setzen sich ein - für oder gegen eine konservative, sozialdemokratische, grüne, linke oder liberale EU-Politik. Bei den Wahlen belohnen sie EU-politische Erfolge, strafen Nichtstun, Skandale und Fehlschläge ab. Zwischendurch mischen sie sich ein: mit Initiativen, Aufrufen, Protesten.

Was nach normaler Demokratie klingt, bleibt Utopie. Denn so läuft das nicht. Welcher Bürger zieht schon eine Bilanz der EU-Sozialpolitik? Welcher Wähler belohnt oder bestraft die Bundesregierung für ihre Politik in Brüssel? Wer diskutiert mit Freunden und Bekannten das neue EU-Investitionsprogramm? Vielleicht machen das EU-Nerds. Die breite Öffentlichkeit tut es (noch) nicht. Warum das so ist, und wie es anders laufen könnte, wollte ich im persönlichen Gespräch bei der Europawerkstatt und online auf Publixphere herausfinden. Es kam viel Feedback. Hier eine Zusammenfassung:

Probleme der EU-Debatte:

  • EU-Gesetzgebung dauert lange. Vom ersten Gedankenspiel der EU-Kommission bis zur Umsetzung in nationales Recht vergehen leicht fünf bis zehn Jahre. Im Fall der EU-Patentreform waren es mehr als 40. Oft fehlt der eine EU-politische Showdown, vor dem die Debatte heiß laufen könnte.

  • EU-Gesetzgebung hat viele Mütter und Väter. 28 Regierungen, 28 nationale Parlamente, die EU-Kommission und das EU-Parlament verantworten die großen Entscheidungen gemeinsam. Das System ist auf diplomatischen Konsens getrimmt, nicht auf offene Kontroverse. Die einfache Erzählung 'Regierung vs. Opposition' fällt institutionell bedingt aus. Das Problem: am Ende sind oft alle und keiner verantwortlich.

  • Deutsche Massenmedien stellen EU-Gesetzgebung nicht als jahrelang ausgehandeltes Politikergebnis dar. Stattdessen wird das Bild vom Brüsseler Bürokraten gepflegt, der den Bürgern so plötzlich wie willkürlich ihre Staubsauger verbietet. Zugleich ignorieren Journalisten allzu oft die maßgebliche Mitverantwortung deutscher Regierungen, Politiker und Beamter. Der Effekt: die EU wird als das Fremde erlebt, nicht als das Eigene.

  • Wahrhaft europäische Medien fehlen bislang oder bleiben Nischen-Anbieter. Sie könnten den ganzen Diskursraum abbilden - mit all seinen Entscheidern und Positionen. Ein Grund: die Sprachbarriere.

  • EU-Gesetzgebung bleibt ein Elitenprojekt. Sie verlangt dem Einzelnen viel Wissen ab, über Institutionen, Abläufe, Rechtliches. Der Informationsrückstand von Journalisten und Bürgern ist oft dramatisch. Beispiel: Dass auch die Bundesregierung die EU-Kommission mit dem Freihandelsabkommen TTIP beauftragte, zählt aktuell schon als „Fachwissen“.

  • Der EU-Politik fehlen Identifikationsfiguren und Emotionen. Ihre Sprache ist selten einfach und direkt, dafür oft blutleer und verklauseliert. Was auch immer das aus kaltblauen Hintergründen und grautristen Gebäudekomplexen zusammengezimmerte „Corporate Design“ der EU symbolisieren soll - Bürgernähe, offener Diskurs und Leidenschaft fühlen sich anders an.

  • Allgemeine Politikverdrossenheit: Desinteresse an Politik ist kein EU-spezifisches, sondern ein allgemeines Phänomen - sie trifft auch die Bundespolitik, wie eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt.

Was können wir tun?

  • die EU ändern: Hätten wir eine echte EU-Regierung, echte europäische Parteien, ein maximal starkes EU-Parlament und europaweit konsumierte Medien, hätten wir vielleicht auch die ideale Arena für echte Kontroversen um unsere EU-Politik. Aber das ist Zukunftsmusik. Was können wir sofort tun?

  • Betroffenheit bewusst machen: Bei vielen EU-Regeln bemerken die Bürger gar nicht oder zu spät, dass sie persönlich betroffen sind. Das können Politik und Medien schnell ändern, indem sie frühstmöglich und vorrangig kommunizieren, was EU-Gesetze konkret für den Bürger bringen und ändern. Das geht selbst bei komplexen EU-Regeln für den Strommarkt oder den Finanzsektor: es gibt ihn immer, den Bezug zum Bürger.

  • Verantwortlichkeiten verdeutlichen: Wen das EU-Verbot von Staubsaugern aufregt, sollte wissen, dass auch die Bundesregierung dieses Verbot so wollte und will. „Die“ EU ist meist der falsche Adressat für Kritik. Der richtige wären zunächst die (nationalen) Entscheidungsträger, die eine bestimmte EU-Politik betreiben. Institutionen und Medien können den Bürgern kräftig dabei helfen, Verantwortlichkeit zu erkennen. Wer stimmt im Rat und im EU-Parlament wofür - und warum? An wem scheitert was? Wo kommt diese Regelung her? Dieses Grundwissen um jeden EU-Politikprozess muss schwellenlos und schnell verfügbar sein. In einfacher Sprache. Am Besten gebündelt an einem Ort im Netz. Vielleicht sogar mit Schaubildern verdeutlicht.

  • Die bewegenden Konflikte zeigen: Medien können mehr als Brüssel-Bashing. Sie können vor EU-Entscheidungen zuspitzend darstellen, wie innerhalb des EU-Systems konservative, grüne, soziale, liberale und mitunter auch nationale Positionen aufeinanderprallen. Diese Konflikte bieten Diskussionsstoff – und gute Quoten, wie der Fall TTIP zeigt. Manche EU-Geschichte lässt sich auch personalisiert erzählen. Wie soll nun ausgerechnet Jean-Claude Juncker aus Luxemburg gegen Steuerdumping in der EU vorgehen?

  • Einmischung statt Ohnmacht: Die Bürger sollten wissen, wie sie sich europäisch artikulieren und vernetzen können – nicht nur über Parteien, sondern auch über NGOs und eigene Initiativen. Wer EU-politisch streiten will, dem empfehle ich natürlich auch diesen Diskussions-Raum hier (Publixphere) - gemeinnützig, überparteilich, offen für alle.


Hinweis: Dieser Text erscheint in leicht gekürzter Fassung im Magazin Treffpunkt Europa - in einer Sonderausgabe zur Europawerkstatt. Alle Interessierten sind eingeladen, ihre Einsprüche und Ergänzungen per Kommentar einzubringen.

UPDATE: Ergänzungen

  • Europäische Diskutanten in den Öffentlich-Rechtlichen: Gerald-Christian Heintges kommentiert via Twitter: "Wir brauchen viel mehr kontroverse Diskussionen in den öffentlich-rechtlichen Medien. Am besten mit Teilnehmern aus unterschiedlichen Mitgliedsstaaten und dem Europäischen Parlament. Mit europäischen Diskutanten schaffen wir einen ersten Schritt zu einer europäischen Öffentlichkeit."

  • Verantwortlichkeit Claus Mayr macht beim Punkt darauf aufmerksam, dass nicht nur die Bundesregierung eine wichtige Rolle für das EU-Recht spielt, sondern auch der Bundestag und falls erforderlich der Bundesrat. "Das heißt unterm Strich, nicht nur unsere Volksvertreter in Brüssel und Straßburg, sondern auch die in Berlin sind an den meisten Entscheidungen beteiligt. und da ist es vor allem ein Versäumnis der regionalen Medien, dass sie nicht vermitteln, was "unsere" Abgeordnete / "unser" Abgeordneter in Berlin und Brüssel berät oder am Ende in Straßburg mit beschlossen hat. Auch seien gerade im EU-Parlament nach der Wahl Deutsche in unglaublich vielen einflussreichen Positionen: "...vom deutschen EP-Präsidenten (bis 31.12.16) und zwei deutschen Vizepräsidenten über die Hälfte (!) aller Fraktionsvorsitzenden und immerhin 1/4 aller Ausschussvorsitze, die beiden Koordinatoren der größten Fraktionen im Umweltausschuss etc. etc."


Kommentare

  • Björn Müller sicherheitspolitik-journalismus.org
    +3

    Danke für diesen feinen Überblick in Sachen Best Practice EU Debatte. Ich möchte noch einen, aus meiner Sicht wichtigen, Aspekt zum Punkt "Verantwortlichkeiten verdeutlichen" anbringen. Es ist ein massives Manko, dass die EU bis dato über keine Kommunikationsabteilung verfügt, die konsequent Public Affairs im Sinne der Union betreibt. Auf Ebene der Nationalstaaten gehört das Negativecampaigning gegen Brüssel zum Standardwerkzeug der Politik-Gestaltung, siehe das Paradebeispiel des Briten-Premiers David Cameron. Die Union hat dem bis dato nichts Gleichwertiges entgegen zu setzen - wirksame Kampagnen um die politische Deutungshoheit bei zentralen Themen wie Freizügigkeit zu erlangen, fehlen völlig; ein vorausschauendes Agendasetting ebenso. Eine ernst zu nehmende Kommunikationsabteilung oder Zelle mit Budget auf EU-Ebene zu implementieren ist natürlich nicht einfach. Die Staaten selber haben kein Interesse an der Herausbildung einer politischen Kommunikationsarbeit der EU. Hinzu kommt: Die Kommission der Union ist in ihrer Konstruktion als Zwitter zwischen Regierung & Verwaltung mit einem sehr funktionalen Politikverständnis eine suboptimale Option zum Aufbau offensiver Kommunikationsstrukturen. Die Institution EU-Parlament, mit ihrem Drang nach mehr Einfluss, wäre hier sicher besser geeignet. Dort gibt es allerdings die Hürde, dass eine Inhouse-Lösung für eine Kommunikationsabteilung, die im großen Stil und "rauflustig" Dispute und Kampagnen anstößt, abhängig wäre von der Zustimmung der populistischen Antieuropäer im Parlament, die an einer Pro-Europa Kommunikation keinerlei Interesse haben. Vielleicht hat hier jemand Ideen zur praktikablen Umsetzung einer schlagkräftigen Kommunikationsarbeit der EU?

    • Lieber Björn, danke für die Ergänzung! Ich werde den Text oben Stück für Stück erweitern - dann auch mit Deinem Feedback.

      Ganz interessant - auch wenn er sich noch nicht so herumgesprochen hat - finde ich den Versuch der EU-Kommission, EU-Mythen aufzuklären (Übersicht). Als Schritt in Deine Richtung empfinde ich auch Stellungnahmen der Kommission, die konkreten Presseberichten in ungewohnt scharfem Ton widersprechen - wie im Fall TTIP. Ob das eine ganz neue Kommunikationspolitik ist, weiß ich nicht, hatte ich aber so noch nie gelesen.

      Auch verspricht die Juncker-Kommission, "politischer" zu sein. Wir werden sehen. Aber die Rolle der Kommission finde ich aktuell auch ungemein interessant, weil ungeklärt / im Wandel.

      Alex

      P.S: Ich spreche hier grade eher als Privatperson, nicht für Publixphere :)

      • Dies soll eine konkretisierende Ergänzung sein zu BjoernMuellers Gedanken: " Es ist ein massives Manko, dass die EU bis dato über keine Kommunikationsabteilung verfügt, die konsequent Public Affairs im Sinne der Union betreibt":

        Da sich die Anhänger und Mitläufer der gefährlichen Bewegung "gegen die Islamisierung des Abendlandes" zu "patriotischen Europäern" erklären, halte ich eine Stellungnahme von Jean-Claude Juncker für die Kommission und eine Stellungnahme der proeuropäisch gesinnten, demokratischen Parteien des EU-Parlaments für dringend erforderlich.

        PEGIDA spricht nicht für die Mehrheitsmeinung in Europa und erst recht nicht für die "guten" Europäer, wie sie es vorzugeben versuchen. Für politisch nicht so versierte Menschen bei uns ist es wichtig, deren tatsächlichen Standort, nämlich europaskeptisch bis europafeindlich, zu benennen und so schon die Lüge in ihrer Namensgebung zu entlarven.

        Auch müssen die zuständigen EU-Institutionen ihre Flüchtlingspolitik für Europa kommunizieren.

        Auch ist es nötig, dass Brüssel und Straßburg ein klares Wort zur "Islamisierung des Abendlandes" sagen. Dass es ein Phantombild ist, eine Wahnvorstellung, dass es die Islamisierung nicht gibt. Dass der IS nicht dabei ist, Dresden oder das Ostfriesland einzunehmen, und dass weder für Düsseldorf oder München noch für eine andere europäische Großstadt die Gefahr der Einführung der Scharia besteht.

        Ein Zeichen wäre es, wenn Juncker und/oder Gauck und/oder Merkel vor eine PEGIDA-Montagsdemonstrationen in Dresden treten und klare Worte sprechen würden.

      • Claus Mayr ist dafür
        +2

        Lieber Herr Wragge, lieber Herr Müller,

        Junckers Ansatz, die Kommission "politischer" zu machen, umfasst auch ein neues PR-Team, schauen Sie sich mal die entsprechende website an! Das Hauptproblem, das ich wie bei Junckers Agenda selbst sehe: es ist völlig auf die Wachtstumsagenda eingeschworen, und empfindet selbst die aktuelle Debatte mit dem EP zu diesem Thema als lästig. Zudem hat sich Junckers präsidialer Anspruch auch bereits auf die "Denke" seiner Presseleute ausgewirkt: wir regieren Europa (nb: eigentlich ist es ja nur die EU!), und andere Meinungen interessieren uns nicht. Dass die Kommission gar keine demokratische Legitimation hat, im Gegensatz zum Parlament, wird dabei völlig vergessen - oder bewusst negiert. Doch wie kann man die Herzen der Bürgerinnen und Bürger erreichen, wenn man kaltschnäuzig auf so hohem Roß sitzt? Vielleicht gibt der Karlspreis 2015 an EP-Präsident Martin Schulz der Diskussion wieder einen Anschub?

        • Lieber Claus Mayr, danke für den Hinweis, hier noch mal der Link zum neuen Kommissions-Online-Auftritt.

          In der Bewertung der Kommission vertrete ich hier im Sinne des überparteilichen Ausstauschs auf Publixphere keine eigene Meinung. Aber ich kann gerne helfen, eine Diskussion über die neue Rolle der Kommission zu organisieren (Vernetzung etc.). Wen's interessiert, der mache also einen Aufschlag! Beste Grüße, Alexander Wragge

  • Lieber Alex, auch von mir ein Dankeschön für diesen Überblick. Ich werde mal versuchen, einige der von dir genannten Punkte aus meiner Sicht kurz zu kommentieren.

    Die EU-Gesetzgebung ist ein Elitenprojekt: Gesetzgebung im Allgemeinen verlangt dem Einzelnen viel Fachwissen ab. Auf EU-Ebene ist das zwar noch eine Nummer größer als auf Nationaler oder Landesebene, aber generell ist Gesetzgebung immer eine Sache der "Eliten". Das liegt meiner Meinung nach aber in der Natur der Dinge. Wir leben in einer komplexen Gesellschaft, die nunmal komplexe Regulierungsmaßnahmen erfordern. Ich glaube nicht, dass es eine Möglichkeit gibt, diesen Gesetzgebungsprozess so zu vereinfachen, dass alle Bürger alle Themen verstehen und nachvollziehen können. Vor allem bei solch einem Mammutprojekt wie der EU.

    Allgemeine Politikverdrossenheit: Wir arbeiten ja daran, dies zu ändern. ;) Liegt aber auch an der Materie.....die meisten Leute aus meinem Bekanntenkreis interessieren sich nicht wirklich für Politik weil es zu komplex ist. Und die Komplexität nimmt natürlich zu, je höher man den Berg erklimmt....(Kreis, Kommune, Land, Bund, EU). Politik Interessant zu machen ist eine unfassbar schwere Aufgabe denn seien wir ehrlich: oftmals ist es einfach sacklangweilig. :D Wenn es nicht gerade um "heikle" Themen wie Glühbirnen, Staubsauger und TTIP (wobei ich das Gefühl habe dass die Aufreger über die Glühbirnen- und Gurkenverordnungen größer sind als bei TTIP) wo die einzelne Privatperson direkt die Auswirkungen spürt, ist es einfach nicht attraktiv genug. Da fürchte ich, dass es wirklich schwierig ist für eine breite Masse Politik wirklich interessanter zu machen. Vor allem EU Politik.

    EU-Politik hat viele Mütter und Väter: Ja, definitiv. Viele Köche verderben den Brei. Und ein auf Konsens ausgelegtes System wird niemals die Effektivität eines konfrontativen Systems. Ist aber anders innerhalb der EU nicht zu lösen.

    Die EU-Ändern: Nein! Ich persönlich möchte nicht klassische nationalstaatliche Aufgaben an die EU outgesourced sehen. Vor allem Haushalts- und Sicherheitspolitik müssen unter der Kontrolle der einzelnen Nationalstaaten bleiben.

    Betroffenheit bewusst machen: Definitiv. Das muss schneller gehen. Und über diese wunderbare Erfindung namens "Internet" (ein Wunder dass sich dieser Quatsch durchsetzen konnte) ist es so wunderbar einfach, Dinge zu kommunizieren. Warum das nicht wirklich gemacht wird erschließt sich mir nicht wirklich. Allerdings kommen wir da wieder zurück zu Politikverdrossenheit: die Leute interessiert es nur rudimentär, und wenn sie davon tangiert werden müssen sie mit den Konsequenzen leben. Es ist ein Teufelskreis.

    • Lieber Fred!

      • Vorab: Ich benutze hier den Redaktions-Login, spreche aber nicht für Publixphere, sondern nur als Alex

      Zu Deinen Punkten:

      Ich glaube nicht, dass es eine Möglichkeit gibt, diesen Gesetzgebungsprozess so zu vereinfachen, dass alle Bürger alle Themen verstehen und nachvollziehen können.

      So maximal formuliert gebe ich Dir Recht - das ist nicht möglich. Aber das heißt ja nicht, dass nicht noch extrem viel Vereinfachungs-Potenzial da ist. Man kann die Dinge oft auch ganz einfach sagen - ohne Verfahrensnummern, Fachausdrücke usw.. Ich gebe Dir absolut Recht: Klartext ist sauschwer (und ich wünschte ich könnte es). Vor allem ist der EU-Sprech anstrengend. Fang mal an über ein europäisches Gesetzesvorhaben zu schreiben, es dauert Minuten und du bist in diesen ganzen "sacklangweiligen" Sprache verfangen, in diesem Universum, und musst da erstmal wieder rausfinden.

      • Ein aktuelles Beispiel: die Euroreform. Das ist ein Schlüsselereignis für uns alle, als Büger dieser Währungsgemeinschaft. Aber die Debatte führt eine in Relation winzig kleine Zahl an Menschen. Wer liest, durchdringt und versteht schon die Debattengrundlage, den "Bericht der fünf Präsidenten", Juni 2015)? Wer bemerkt auch das, was diplomatisch verklauseliert zwischen den Zeilen steht, und wer sieht, was darin fehlt?

      • Es wäre aber wichtig, genau jetzt in diese Debatte einzusteigen, denn am Ende des Experten-Diskurses, wenn es zum Beispiel in 2,3 Jahren zu einer EU-Vertragsänderung kommt, wird das Paket schon zwischen den Ministerien, Nationen, Parteien geschnürt worden sein. Da bleibt dann nur noch ja oder nein. Für eine breite Bürgerbeteiligunng, die etwas zu ändern vermag, wäre es zu spät - was wiederum die Skepsis, den Frust und den Widerstand schürt.

      • Also wie lassen sich für diese sehr komplexen Zusammenhänge (Bankenunion, Sozialunion, 'Stabilisatoren', ESM usw.) starke und einfache Bilder finden, die möglichst viele Menschen verstehen? Radikal einfach - aber nicht falsch oder dumm?

      • es wäre auch zu fragen - ohne hier große Verschwörungen zu wittern - ob das aktuelle EU-System die Verbreiterung und Öffnung des Diskurses auch absichtlich scheut. Die durch Komplexität, Fachsprache und Wissensbarrieren abgeschottete EU-Politikmaschine läuft ja auch ohne die vielen Millionen Bürger, ohne ihre Ideen und Fragen. Man hat sich damit ganz gut arrangiert, unter sich zu bleiben, hab ich den Eindruck.

      • Was ich mir wünsche ist die bewusste Entscheidung zur Breite, zur Offenheit. Das ist eine Kulturfrage. Im besten Falll schreit jemand in einem Büro in Brüssel: 'So abstrakt undeutlich kompliziert darf das nicht geschrieben sein, denk an die Demokratie!' - wenn mal wieder 100 Fachleute ein folgenreiches EU-Reformpapier zusammenschrauben. Klartext kann auch eine Kultur sein, Kontroverse ausdrücklich erwünscht.

      • aber ich will nicht alles auf ein reines Sprachproblem verengen, so als gehe es nur um die richtige Verpackung. Es geht auch um die Struktur, zum Beispiel die Verunsicherung der Zuschauer über die Macht- und Kräfteverhältnisse in Europa. Wer ist eigentlich verantwortlich und wer ist eigentlich mächtig? Was hat ein 'Klartexter' wie Martin Schulz tatsächlich zu sagen, wenn er einen Orban ins Gebet nimmt? Was ist die Interview-Äußerung eines EU-Kommissars eigentlich de facto wert? Ganz oft bleibt das im Nebel des Systems (siehe oben). Das frustriert - auch Journalisten, so meine Erfahrung.

      • Du hast Recht, in einer repräsentativen Demokratie und angesichts hochkomplexer Probleme (Finanzen, Energie usw.) werden wir ein wenig von Experten regiert werden müssen. Wir können auch Politiker als Profis und Experten sehen, als Dienstleister, die sich eben damit auskennen, einfach für uns einen Auftrags-Job machen (Zeitarbeit). Aber anderseits: wenn die Menschen gar nicht mitfiebern und mitgestalten, geht sehr sehr viel verloren - vor allem an Identifikation mit diesem EU-System, mit der Union, die einzig und allein uns selbst gehört, den Bürgern. "Die" EU ist so schnell gar nicht mehr Deins, Du erkennst sie ja noch nicht mal, als Dein Raum, als Deine Arena und Änderungsmaschine.

      • Und ohne Zuschauer und Belohnungen (Wählerstimmen) verliert die EU-Politik eben auch den Druck, sich maximal im Sinne der Bürger anzustrengen, und um das beste Konzept zu wetteifern. Wer soll sich noch anstrengen, wenn es sowieso niemanden interessiert? Wenn es bei Europawahlen um alles mögliche (nationale) geht, nur nicht meine Arbeit als Abgeordneter in den letzten 5 Jahren? Nur nicht um meine konkrete Arbeit an dieser Frage, an dieser Richtlnie? Ich sage ja nicht, dass alle der EU-Politik auf die Finger schauen sollen, aber mehr Menschen sollten es tun, ich glaube die meisten Politiker und 'Eliten' werden sich freuen, sie warten darauf, dass jemand ihnen feedback gibt, ihre Arbeit würdigt, Fehlschläge mitbekommt, und einfach mal mitdenkt.

      • zu Konsens und Konfrontation: Ich verstehe die Konsenskultur, sie macht ja auch Sinn! Die EU ist als außenpolitisches Projekt gestartet. Diplomatie heißt Verschwiegenheit, sich im Geheimen gesichtswahrend Streiten, auf gar keinen Fall öffentlich, Positionen nicht jedem auf die Nase binden, Verhandeln eben. Das hat wunderbar funktioniert, das Friedensprojekt Europa nach zwei Weltkriegen unfassbar weit vorangetrieben, ehemalige Kriegsgegner dazu gebracht, gemeinsam Richtlinien zu Glühbirnen zu verabschieden - wer hätte das gedacht?

      • Aber nun ist die EU eben zur Innenpolitik geworden. Wir haben schon so eine halbe europäische Republik. Deswegen funktionieren die alten Hinterzimmer-Formate nicht mehr - bzw. sie müssen ergänzt werden. Es muss so öffentlich und kontovers und demokratisch wie möglich zugehen. Aber zu diesem Punkt (EU-Ändern) können wir auch nochmal seperat diskutieren.

      • beim allgemeinen Desinteresse gebe ich Dir Recht. Aber es gibt auch Politisierungs-Momente, Politiserungs-Wellen, Schlüssel-Erlebnisse für jeden Einzelnen. Aktuell ist es für mich die Flüchtlingskrise und die Debatte, die unglaublich viele Menschen dazu bringt, nachzudenken, sich einzumischen, Stellung zu beziehen. Also ich wäre da nicht so pessimistisch (frag mich an anderen Tagen, und ich würde Deinen Pessimismus doppelt und dreifach toppen)

      Grüße! Alex