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Asymmetrische Parlamentsmacht am Beispiel des dritten Griechenland-Pakets


Foto: picture alliance / abacaFrankreichs Premier Manuel Valls (am Rednerpult) erhält in der Nationalversammlung Rückhalt für das jüngste Griechenland-Paket. Foto: picture alliance / abaca

Wenn die Eurostaaten wie im Fall Griechenland Kredite gewähren, haben nicht alle nationalen Parlamente gleich viel zu sagen - analysiert EU-Experte und Blogger Valentin Kreilinger tineurope . Es werde wichtiger, Entscheidungsbefugnisse auf einen inter-parlamentarischen Ausschuss in der Eurozone zu übertragen.


Ein Beitrag von Valentin Kreilinger tineurope

Wie sind sich nationale Parlamente am dritten Griechenland-Paket beteiligt gewesen? Auf unterschiedliche Weise: Parlamentsmacht ist in der Eurozone asymmetrisch verteilt: Nur im Bundestag gibt es Plenarabstimmungen über die Aufnahme von Verhandlungen und über das Verhandlungsergebnis. In Estland, Finnland und Österreich finden Beratungen und Abstimmungen ganz oder teilweise in Ausschüssen statt. Andere nationale Parlamente sind weitaus weniger oder gar nicht einbezogen.

Die Verhandlungen zwischen den „Institutionen“ und dem Empfängerland eines Rettungspakets des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) werden gemäß nationaler parlamentarischer Beteiligungsrechte von acht nationalen Parlamente durch Abstimmungen genau kontrolliert, teilweise sowohl vor Beginn der Verhandlungen (ex-ante) als auch nach Abschluss der Verhandlungen (ex-post). Ohne die ausdrückliche Zustimmung eines Parlamentsausschusses oder des Plenums muss in diesen Ländern der jeweilige Regierungsvertreter im ESM-Gouverneursrat den ein Hilfspaket betreffenden Vorschlag ablehnen. Diese Parlamente sind deshalb mächtig, während andere nur ohnmächtig zusehen können.

Der Weg zu einem Hilfspaket des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)

Die einzelnen Schritte zu einem ESM-Rettungspaket sind klar festgelegt: Nach dem Antrag eines Landes auf Stabilitätshilfe auf der Basis von Artikel 13(1) des ESM-Vertrags (Schritt 1) befasst sich die Eurogruppe damit und der ESM-Gouverneursrat muss den Start von Verhandlungen erlauben. Vor dieser Entscheidung müssen einige nationale Parlamente dem Vertreter ihrer Regierung ein Mandat erteilen (Schritt 2). Erst dann starten die Verhandlungen zwischen den „Institutionen“ und dem Empfängerland (Schritt 3). Nach der Einigung auf ein Rettungspaket müssen wiederum einige nationale Parlamente die Vereinbarung gutheißen (Schritt 4). Danach kann der ESM-Gouverneursrat endgültig zustimmen (Schritt 5) und das Hilfsprogramm beginnt. Parallel zu den Schritten 2 bis 4 muss das Empfängerland einige Maßnahmen vorab umsetzen („prior actions“) und der Vereinbarung mit den Institutionen („Memorandum of Understanding“) ebenfalls zustimmen.

Ein enger Zeitplan für die nationalen Parlamente

In Deutschland, Estland, den Niederlanden, Österreich und Spanien haben die Parlamente am 18. und 19. August über ein Mandat für die Zustimmung zum Verhandlungsergebnis abgestimmt; das lettische und das finnische Parlament haben bereits in der Woche zuvor grünes Licht gegeben (ex-post-Abstimmungen). In den anderen Ländern benötigt die Regierung kein Mandat des Parlaments, um dem Verhandlungsergebnis zustimmen zu können. Die Übersicht zeigt außerdem, dass sechs Regierungen von ihrem Parlament „ex-ante“ ein Mandat für die Zustimmung zur Aufnahme von Verhandlungen über ein neues Rettungspaket bekamen.

Tabelle mit Überblick über die Parlamentsabstimmungen zum dritten Griechenland-Paket im Juli und August 2015

Unter den acht Parlamenten mit Abstimmungen über das dritte Griechenland-Paket sind Sitzungen von Haushalts- oder Sonderausschüssen etwa genau so stark vertreten wie Plenarsitzungen, die im Gegensatz zu Ausschusssitzungen in der Öffentlichkeit weitaus stärker wahrgenommen werden. Es ist anzumerken, dass ex-ante-Plenardebatte und Abstimmung in Frankreich weder notwendig noch rechtlich bindend waren, aber parlamentarische Unterstützung für die Politik der Regierung signalisieren sollten.

Am dritten Griechenland-Paket zeigt sich auch, dass alle vier Länder, die sowohl vor als auch nach den Verhandlungen abgestimmt haben oder abstimmen werden, zu den „nordeuropäischen Geberländern“ zählen (Deutschland, Estland, Finnland und Österreich) und so versuchen, die Auszahlung der Hilfskredite und ihre Konditionalität genau zu kontrollieren.

Kann im ESM nur einstimmig entschieden werden?

Im Gouverneursrat des ESM richten sich die Stimmrechte der Mitgliedstaaten nach ihrem Anteil an Kapital und Garantien. Auf Deutschland entfallen beispielsweise 27%, auf Frankreich 20%, die Niederlande 5,2%, die Slowakei 0,8% und auf Estland 0,2%. Obwohl Entscheidungen in gegenseitigem Einvernehmen (d.h. einstimmig) getroffen werden und von diesem Prinzip bisher noch nicht abgewichen worden ist, bietet der ESM-Vertrag die Möglichkeit, in einem Dringlichkeitsabstimmungsverfahren mit einer qualifizierten Mehrheit von 85% der Stimmen zu entscheiden, wenn die „Unterlassung der dringlichen Annahme eines Beschlusses zur Gewährung oder Durchführung von Finanzhilfe […] die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität des Euro-Währungsgebiets bedrohen würde“ (Artikel 4(4) ESM-Vertrag). In diesem Fall sind die nationalen Parlamente kleinerer Staaten kein Vetospieler mehr – alleine könnten lediglich Deutschland, Frankreich oder Italien (18%) ein Rettungspaket verhindern.

Institutionelle Grundprobleme der Eurozonen-Governance

Unabhängig von der Taktik einzelner Akteure im Verhandlungsprozess und von verschleppten Reformbemühungen für die unvollendete Wirtschafts- und Währungsunion veranschaulicht das dritte Hilfspaket zwei institutionelle Grundprobleme der Governance des ESM: Erstens gibt es durch nationale Bestimmungen mächtige und ohnmächtige Parlamente und zweitens können laut ESM-Vertrag kleine Staaten im Gouverneursrat im Dringlichkeitsverfahren überstimmt werden. Falls es in der Zukunft zu einer solchen Situation käme und damit in den ESM eingezahlte (vormals nationale) Haushaltsmittel ohne Zustimmung aller Akteure als Hilfskredit an ein Empfängerland gingen, wäre die Solidaritätsbereitschaft innerhalb der Eurozone vermutlich überstrapaziert. Geld würde fließen, aber mit welcher Legitimation? Selbst wenn jedes der 19 nationalen Parlamente eine Entscheidungsmacht wie der Deutsche Bundestag hätte, wäre das keine Lösung: immer notwendiger wird vielmehr die Stärkung kollektiver Formen inter-parlamentarischer Zusammenarbeit und die Übertragung von Kontroll- und Entscheidungskompetenzen auf einen neuen oder einen auf Artikel 13 des Fiskalpakts basierenden inter-parlamentarischen Ausschuss.

Dieser Text wurde zuerst auf dem Blog des Jacques Delors Institut - Berlin veröffentlicht: Link


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Kommentare

  • Euro-Parlament?

    Lieber Valentin Kreilinger tineurope , sehr sehr wichtiges Thema. Wie MisterEde sah ich bisher die Notwendigkeit, entscheidungsfähig zu bleiben. Krisenzeiten sind Zeiten der Exekutive, das ist leider so. Nur irgendwann ist der Ausnahmezustand auch mal vorbei, und das Verfahren muss nachhaltig demokratisch geregelt werden.

    Erst einmal würde ich in der Analyse noch etwas härter formulieren. Was wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, war ein Stresstest für den Parlamentarismus. Wie sollte allein der Bundestag informierte Entscheidungen treffen, im Eilverfahren, nach Nacht-und-Nebel-Aktionen sich durch hunderte Seite ESM- und Troika-Sprech kämpfen, unter dem unglaublichen Druck einer auf der Kippe stehenden Währungsunion? Das war schon ein Husarenritt, ein Wahnsinn!

    Und hatten denn die Abgeordneten noch Handlungsspielräume? Konnten sie sagen, mir gefallen die Troika-Vorgaben an der Stelle nicht oder die griechische Bilanz an jener Stelle? Dafür war doch gar keine Zeit, es war doch ständig hopp oder topp, es gab kein 'Ja aber anders', sondern nur 'Friss oder stirb', so oder alles explodiert und das ist dann deine Schuld, lieber Abgeordneter.

    Das demokratische Gestalten muss jetzt endlich wieder möglich werden. Reicht dafür ein inter-parlamentarischer Ausschuss? Ich bin da etwas skeptisch - soll er geheim tagen? Oder sich öffentlich fetzen können, über die Vorgaben für die griechische Bahn bis zur Verwendung der griechischen Bodenschätze? Denn so weit geht ja der Takeover der ESM-Troika in Griechenland, bis ins kleinste Detail. Auf der anderen Seite bindet die Konstruktion immense Steuermittel in den Geberstaaten - noch nur auf dem Papier, aber im worst case zahlungswirksam. Wäre da nicht ein Eurozonen-Parlament der notwendige große Wurf?

    • Vielen Dank für Ihren Kommentar, jkippenberg.

      Ja, die Handlungsspielräume für den einzelnen Abgeordneten sind sehr gering. Mir ging es in meinem Text lediglich um die unterschiedliche Parlamentsmacht. Mit dem ESM-Finanzierungsgesetz hat der Bundestag seine Mitwirkungsrechte (nochmals) gestärkt und auf die von Ihnen beschriebene Problematik reagiert. Beim dritten Griechenland-Paket, dem ersten aus ESM-Mitteln, hat das Plenum erstmals ex-ante abgestimmt.

      Der inter-parlamentarische Ausschuss sollte öffentlich tagen wie die inter-parlamentarische Konferenz von Artikel 13 des Fiskal-Pakets, die seit Oktober 2013 halbjährlich zusammentritt. Er würde durch seine Entscheidungsbefugnisse deutlich stärker wahrgenommen und es gäbe sichtbare Konfliktlinien. Daraus könnte sich dann ein Eurozonen-Parlament entwickeln.

      • Er würde durch seine Entscheidungsbefugnisse deutlich stärker wahrgenommen und es gäbe sichtbare Konfliktlinien.

        Das habe ich anders verstanden. Ich dachte solche interparlamentarischen Ausschüsse oder Konferenzen hätten gerade keine Bindungswirkung (EU-Vertrag, Protokoll 1, Art. 10).

  • Die ersten Abschnitte sind meines Erachtens eine richtige Darstellung der Situation. Den Schlussfolgerungen im letzten Abschnitt kann ich aber nur sehr eingeschränkt folgen.

    Erstens gibt es durch nationale Bestimmungen mächtige und ohnmächtige Parlamente

    Richtig, aber ist das tatsächlich ein Problem? Wie ein Land seine Entscheidungsfindung gestaltet, ist seine Sache, solange der Prozess demokratisch ist. Was würde denn passieren, wenn in Frankreich der Staatschef und die Parlamentsmehrheit aus unterschiedlichen politischen Lagern kommen? Wäre es denn wirklich wünschenswert, in diesem Falle eine Zustimmung Frankreichs an die Zustimmung von Präsident und Parlament zu binden?

    Problematisch erscheint mir viel eher, wenn in der nationalen Struktur die Entscheidungskompetenz bei den Parlamenten liegt, sich jedoch auf europäischer Ebene hin zu den Regierungen verschiebt. Insofern ist es doch dann aber gerade gut, wenn in Deutschland auch das Parlament der Aufnahme von Verhandlungen zustimmen bzw. das Ergebnis absegnen muss.

    Die Machtverschiebung von Parlamenten zu Regierungen in der EU (www.mister-ede.de)

    zweitens können laut ESM-Vertrag kleine Staaten im Gouverneursrat im Dringlichkeitsverfahren überstimmt werden

    Wenn man 28 (in der Eurozone 19) Länder will, die komplett souverän sind, dann braucht man keinen Verbund mit dem Namen EU und sollte tunlichst eine gemeinsame Währung vermeiden! Und das gilt natürlich auch für den ESM.

    Geld würde fließen, aber mit welcher Legitimation?

    Das sehe ich gerade umgekehrt. Welche Legitimation hätte denn ein Nichthandeln, hinter dem nur 1% der Bevölkerung steht?

    wäre die Solidaritätsbereitschaft innerhalb der Eurozone vermutlich überstrapaziert

    Wenn dem so wäre, sollten wir uns wirklich überlegen, ob wir eine vertiefte Integration der EU wollen. Die wird nämlich nur bei Abgabe von nationaler Souveränität funktionieren und das kann eben genau dazu führen, dass dann auch mal ein Land überstimmt wird.

    Was wir brauchen:
    Mehr Entscheidungskompetenzen beim Europaparlament, dessen Abgeordnete aus den Euro-Ländern dann z.B. über den ESM wachen. Eine Zustimmung der nationalen Regierungen, wie in Deutschland z.B. bei den Ländern über den Bundesrat, kann ja ergänzt werden. Dann könnten z.B. eine Mehrheit der Europaabgeordneten aus den Euroländern und eine qualifizierte Mehrheit der Euro-Gruppe die Aufnahme von Verhandlungen und das Ergebnis absegnen.

    • Vielen Dank für Ihren Kommentar, MisterEde.

      Die Regierungen konnten in der Tat ihren Einfluss auf europäischer Ebene stärken - einige nationale Parlamente haben wirksame Kontrollinstrumente entwickelt, die dann die Verhandlungsposition der Regierung auf europäischer Ebene stärken. Mein Argument ist, dass Parlamentsmacht auf der Basis nationaler Bestimmungen im Dringlichkeitsverfahren ausgehebelt werden kann. Die Legitimationskette wäre unterbrochen, wenn ein Veto überstimmt werden würde.

      Im Integrationsprozess ging die Abgabe nationaler Souveränität einher mit einer Stärkung des EP. Bei der Vertiefung des WWU ist dies bis jetzt nicht geschehen. Die Überwachung des ESM durch das EP würde ich begrüßen. Wenn Garantien und Kapital aus nationalen Haushalten kommen, sollten jedoch die nationalen Parlamente Kontrolle ausüben. Wenn es zu einer Europäisierung kommt, wäre eine zweifache Mehrheit (parlementarisch und intergovernmental) ein sinnvoller Mechanismus.

      • Sehr geehrter Herr Kreilinger,

        ebenso vielen Dank für Ihre Antwort.

        Auseinanderfallen von Entscheidung und Haftung:
        Es stimmt natürlich, dass es problematisch ist, wenn Hollande, der Bundestag und noch ein paar andere Länder eine Entscheidung treffen, durch die z.B. die Slowakei in der Haftung ist, ohne sich dagegen wehren zu können.

        Abgabe nationaler Souveränität:
        Aber genau dem haben die Euro-Länder mit dem ESM-Vertrag zugestimmt, so dass eben in dringlichen Fällen die nationale Souveränität zurückgestellt wird (85% Klausel). Insofern wird im Dringlichkeitsverfahren aber nicht speziell die Parlamentsmacht, sondern allgemein die Entscheidungsgewalt bzw. die nationale Souveränität eines Landes begrenzt. Hat das Parlament ein Veto-Recht, wird dieses ausgehebelt und hat ein Staats- oder Regierungschef die alleinige Entscheidungsgewalt, so wird eben diese ausgehebelt.

        Bundesrat / Wirtschafts- und Währungsunion:
        Beim Bundesrat ist das ja auch so. Eine Änderung des Einkommensteuertarifs greift in die Haushalte der 16 Bundesländer und des Bundes ein. Wenn jetzt 15 Länder zustimmen und nur eines nicht, ist dann in diesem Bundesland die Legitimationskette durchbrochen? Klar, die Bundesländer sind keine souveränen Staaten und man kann argumentieren, dass der Bruch der Legitimationskette in einem Bundesland durch die Entscheidung des gemeinsamen Bundestags geheilt wird, aber genau das ist doch auch das Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion. Die nationale Souveränität wird zum Teil an EU-Institution übertragen und dafür werden Entscheidungen im Gegenzug durch das gemeinsame EP legitimiert.

        Interparlamentarischer Ausschuss:
        Wie oben erwähnt, gehe ich davon aus, dass die Entscheidungen und Beschlüsse bei einem solchen interparlamentarischen Ausschuss keine Bindungswirkung haben. Wenn dem so ist, würde ein solcher Ausschuss ja auch nicht wirklich zu einer Parlamentsbeteiligung beitragen. Oder liege ich da einfach mit meiner Annahme falsch?

        Fazit:
        Selbst wenn ein solcher interparlamentarischer Ausschuss eingeführt würde und seine Beschlüsse bindend wären, würde das nichts daran ändern, dass kleine Länder überstimmt werden können und diese somit in der Haftung stehen, ohne sich dagegen wehren zu können.

        Wenn es also darum geht, dies zu verhindern, wird ein solcher Ausschuss vermutlich nicht helfen. Solange die Eurogruppe kein eigenes Budget hat, würde nur helfen, die nationale Souveränität durch eine Rückkehr zur Einstimmigkeit wieder herzustellen – was ich aber als absoluten Rückschritt empfinden würde. Wenn es hingegen darum gehen soll, dass auch andere Länder, z.B. Deutschland, „überstimmbar“ werden, würde ich die Variante mit Mehrheiten im EP und in der Eurogruppe einem interparlamentarischen Ausschuss auf jeden Fall vorziehen. Im Idealfall sollte dann aber natürlich auch die Euro-Gruppe mit eigenen Finanzmitteln beteiligt sein.

    • Gute Punkte!