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Der Skandal in den Medien – brutale Form der Menschenjagd oder dringend benötigte Aufklärung?


Wikileaks Mobile Information Collection Unit (CC BY 2.0)Wikileaks-Truck vor Fox-News-Zentrale. Foto & Teaser: Wikileaks Mobile Information Collection Unit CC BY 2.0


Ein Beitrag von Hanne Detel

Skandale sind, das lässt sich leicht zeigen, überall. Und es ist unendlich leicht geworden, sich zu empören – auch ohne das Informationsgewitter der digitalen Überall-Medien. Man muss nur eine Zeitung zur Hand nehmen, am besten die mit den großen Schlagzeilen. Man muss nur die Abendnachrichten einschalten, vorzugsweise die der privaten Sender. Man muss sich nur in irgendeiner Weise mit den Erregungsmaschinen der modernen Mediengesellschaft verbinden. Und schon ist er da, unabweisbar, aufdringlich und laut: der Skandal. Er treibt uns um, wenn auch nur für kurze Zeit; er fordert Opfer, die wir schnell vergessen; er zwingt zur öffentlichen Buße, was uns freut.

Es gibt Finanz- und Korruptionsskandale, Sex- und Missbrauchsskandale, Skandale des Feuilletons und der intellektuellen Debatte, politische Skandale, Skandale der Kirchen und der Gewerkschaften, der Unternehmen, der Banken und der Medien, des Sports, des Theaters und der Literatur. „Tag für Tag“, so der Philosoph Peter Sloterdijk, „versuchen Journalisten neue Erreger in die Arena einzuschleusen, und sie beobachten, ob der Skandal, den sie auslösen wollen, zu blühen beginnt. Man darf nicht vergessen, dass in jeder modernen Nation jeden Tag zwanzig bis dreißig Erregungsvorschläge lanciert werden, von denen naturgemäß die meisten nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen. Die moderne Gesellschaft ist zwar eine sehr skandalisierungsfreudige Lebensform, aber sie nimmt nicht jeden Skandalisierungsvorschlag auf. Die meisten Erregungsvorschläge werden abgelehnt oder mit mäßigem Interesse studiert.“

Wenn es jedoch zum Skandal kommt, dann ist der Moment der kollektiven Empörung besonders aufschlussreich. Denn hier probt die Allgemeinheit das große moralische Gespräch und erklärt sich, welche Werte gelten oder doch gelten sollen. Im Skandalschrei offenbaren Einzelne oder auch ganze Nationen ihr Verständnis von Normalität und vergewissern sich ihrer Werte: je gleichförmiger die Entrüstung, desto stabiler und akzeptierter das Wertesystem, das verletzt wurde. Eine offene, eine pluralistische Gesellschaft, die sich nicht mehr an positiv zu bestimmende Werte gebunden fühlt, eine Gesellschaft, die in ganz unterschiedliche Welten und Wirklichkeiten zerfällt, fingiert eine Einheit, eine kollektive Moral in der Abgrenzung und dem gemeinsamen Zorn auf das, was sie als schlecht und böse erkannt hat. Auch die Konfrontation mit dem Abseitigen, dem Unmoralischen und Skandalösen erlaubt es, so schon Emile Durkheim, der Mitbegründer der modernen Soziologie, letztlich moralische Normen zu bekräftigen und in der Grenzüberschreitung die Grenze selbst wieder sichtbar zu machen. Das ist die Moral der Unmoral.

Allerdings hat die allgemeine Skandalsucht, diese moderne Form der Wertedebatte, keine besonders gute Presse. Man nimmt sie eher angewidert zur Kenntnis. Im Kampf um Aufmerksamkeit und Marktanteile praktizierten Journalisten, so heißt es, eine brutale Form der Menschenjagd. Der Skandal werde zu einer überaus schädlichen Kommunikationsform. Wahrheit, meint beispielsweise der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger, sei zwar noch erkennbar, habe aber in der Regel keine Chance sich durchzusetzen. Ohnehin sei der Skandalisierer mehr Künstler als Analytiker, der den Skandal erst kreativ aus dem Material von Missständen produziere. Das heißt: Der in den Massenmedien lancierte und verbreitete Skandal ist bei genauerer Betrachtung Instrument der Aufklärung – und der Gegenaufklärung. Er erzwingt, oft äußerst brutal und effektiv, dies lässt sich positiv verbuchen, Verantwortung und den womöglich dringend gebotenen Neuanfang – und stimuliert doch andererseits häufig nur die gedankenarme Schadenfreude, den voyeuristischen Zeitvertreib, das kollektive Amüsement über den dramatischen Absturz der einst gefeierten Helden. Er setzt Themen und lässt die moralische Debatte dringlich erscheinen, schüchtert Mächtige ein, zerstört Hierarchien der Herrschaft und erreicht mitunter die Kraft einer urdemokratischen Wahl, die gefährliche Charismatiker und Despoten zu Fall bringt. Der Skandal hat zwei Gesichter.

Was ist Eure Meinung zum Skandal in den Medien? Welches der beiden Gesichter kommt häufiger zum Vorschein? Geht es den Medien Eurer Ansicht nach vor allem um Aufklärung, um Auflage oder aber um Macht?


Der Beitrag ist in längerer Form im Buch „Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“ der beiden Tübinger Medien- und Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen und Hanne Detel erschienen (Herbert von Halem Verlag, 2012).


Kommentare

  • neulich bei CNN...eine Endloswerbeschleife...ein Reporter fliegt mit dem Helikopter in das von IS angegriffene Kurdengebiet, eine Familie mit 7 Mitgliedern kann vor laufenden Kameras gerettet werden, der Helikopter dreht ab...ein Wunder! Gut dass es nicht mehr Familienmitglieder waren...aufgrund von Reporter, Kameramann und Techniker wäre vielleicht nicht genug Platz gewesen für alle...Urteile selbst!

  • das problem ist doch aber, dass skandale meist an personen hängen und politik uns schließlich suggeriert: sind die personen verschwunden ist auch das problem an sich erledigt. in der causa guttenberg konnte man imho genau diesen fall begutachten: da hat sich im netz was zusammengebraut, es ging um plagiate und ergaunerte intellektuelle titel, guttenberg hats abbekommen, später auch von der (konservativen) qualitätspresse, musste weg, ist weg. problem gelöst. nicht. aber egal. was ich meine: politische verfehlungen nur über personalablösungen zu managen führt zu nichts. skandale funktionieren so. aufgeklärtes denken nicht.

    • Skandale bleiben meist an Personen hängen. Ja. Emotionale (positive) Geschichten aber auch und werden stark mit einer Person identifiziert (auch wenn diese nicht mehr im Amt ist).

    • Hallo paul, zwei Ergänzungen. Was ist aus der Plagiats-Schwemme an den Unis geworden? Ist der Doktortitel noch was wert? Was erwarten wir als Gesellschaft von unseren Doktoren? Ich weiß es nicht. Das spricht für Deine These von der fehlenden Nachhaltigkeit der Skandalisierung.

      Im Fall Wulff ist für mich der Skandal der Skandal, nicht Wulff. Ebenfalls nicht aufbereitet.

  • Vorgeführt und hingehängt: CRISIS PORN

    Ich würde hier gern auf eine andere Form „brutaler Menschenjagd“ hinweisen.Von vielen unbeachtet hat der Zeitgeist nach dem Crash der Finanzmärkte zum Ende der letzten Dekade eines neues Theater der Grausamkeiten im öffentlichen Raum etabliert und damit die Bewunderung für Schönheit, Reichtum und Erfolg der Prominenten in der populären Kultur und im Sport um ihr dunkles Gegenüber ergänzt. Der Ort für dieses Spektakel ist das Junk-TV der Privaten (SAT1, Kabel1, RTL, Pro7, VOX). Ein Ort, an dem sich diejenigen, die sonst den medialen Diskurs Medien bestimmen, nie aufhalten, ja den sie meiden wie der Teufel das Weihwasser.

    Schulden müssen in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften und ganz besonders in denen der radikalen Form, die wir im Moment in der EU und in den USA praktizieren, immer getilgt werden und zwar an beiden Enden der Skala! Den Finanzsektor hat der Staat mit Steuergeldern entlastet, wirtschaftlich wie moralisch ist dessen Schuld damit beglichen. Die anderen, an diesem System gescheiterten, die nichts Materielles zur Schuld(en)tilgung beizutragen haben, werden vorgeführt und hingehängt als wäre ihr öffentliches Schicksal ein Äquivalent für den materiell nicht möglichen Schuld(en)ausgleich. Sie sind die Hauptdarsteller beim CRISIS PORN der privaten Fernsehsender und generieren damit zusätzlich als materiellen Wert den Profit, mit dem sie ihre Schuld(en) doppelt begleichen sollen.

    Weder besonders schön noch besonders gut gekleidet irren diese HartzIV-Empfänger zur unserer Erbauung durch das trostlose Inventar ihres Lebens, immer auf der Flucht vor Gerichtsvollziehern oder Abgesandten der örtlichen Sozialbehörden. Lichtgestalten wie Schuldnerberater Peter Zwegat (RTL) geißeln unnachgiebig die ungezügelte Konsumlust der Schuldner, die Super-Nanny Katharina Saalfrank (RTL) nordet(e) den frustrierten und deswegen aufmüpfigen Nachwuchs der HartzIVler ein, Helena Fürst, Gnadenlos gerecht (SAT1) guckt(e) im Auftrag des Sozialamtes in die Tiefkühltruhen dieser Familien auf der vergeblichen Suche nach Kaviar und Shrimps, bei Kabel1 lief das unter Achtung Kontrolle und Vox sieht in Goodbye Deutschland sogenannten Auswanderern gnadenlos beim Scheitern zu oder schickt zwergenwüchsige, körperlich und geistig offensichtlich nicht voll leistungsfähige Menschen ins Mutterland des Turbokapitalismus (USA) um sich vor laufenden Kameras in diversen Jobs als Freaks zu prostituieren.

    Zu dieser Art der Schuld(en)tilgung bemerkte Friedrich Nietsche, bekanntermaßen ein ausgewiesener Kenner menschlicher Abgründe 1887 in seiner Genealogie der Moral: „Die Äquivalenz ist damit gegeben, dass an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vortheils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgend welcher Art) dem Gläubiger eine Art Wohlgefühl als Rückzahlung und Ausgleich zugestanden wird, – das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, die Wollust »de faire le mal pour le plaisir de le faire«, der Genuss in der Vergewaltigung: als welcher Genuss um so höher geschätzt wird, je tiefer und niedriger der Gläubiger in der Ordnung der Gesellschaft steht, und leicht ihm als köstlichster Bissen, ja als Vorgeschmack eines höheren Rangs erscheinen kann. Vermittelst der »Strafe« am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem Herren-Rechte theil: endlich kommt auch er ein Mal zu dem erhebenden Gefühle, ein Wesen als ein »Unter-sich« verachten und misshandeln zu dürfen – oder wenigstens, im Falle die eigentliche Strafgewalt, der Strafvollzug schon an die »Obrigkeit« übergegangen ist, es verachtet und misshandelt zu sehen. Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit“.

  • Liebes Forum,

    eine Zusammenfassung von unserem #pxp_thema zu Medienkritik steht nun hier online.

  • Hallo Hanne Detel, danke für die klasse Analyse. Am "Skandal" finde ich tatsächlich die Vergewisserung über unser "Verständnis von Normalität" und unserer Werte interessant. Ich erlebe das persönlich zum Beispiel immer wieder am Umgang mit Tieren. Für mich ist jeder Löwe im Käfig ein zum Himmel schreiender Skandal. Die Menschen um mich herum finden mehrheitlich nichts dabei, so ein hochentwickeltes Wesen ein Leben lang zu quälen.

    Ob das mediale Ausprobieren von "Skandalisierungen" so schlimm ist, weiß ich nicht. Gegen die mediale Hatz auf Einzelne bräuchte es dringend: eine Kultur der Entschuldigung, der Rehabilitation und der zweiten Chancen in der deutschen Öffentlichkeit.

    • Hallo Emil,

      ein Nebenkrater in dieser Diskussion, ich komme darauf durch Ihr Beispiel "Löwe im Käfig":

      Ein spannendes und wichtiges Thema: Zootier-Haltung. Für publixphere? Können Sie es initiieren? Gleich vorweg: Ich bin etwas anderer Ansicht als Sie.

      Und zum Hauptthema: Goethe definierte die Novelle als "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit". Nur was sich von der alltäglichen Norm unterscheidet, ist interessant und berichtenswert. Können wir unsere Medien deswegen heute schelten?

      Allerdings, und da bin ich mit Ihnen, Emil, einer Meinung, dürfen Skandalisierungen nicht zur Hatz auf Einzelne genutzt werden. Der Schaden, der entsteht, ist nicht wieder gutzumachen. Auch nicht durch eine Entschuldigung. Wen die Skandalpresse zu Fall gebracht hat, für den gibt es in der Öffentlichkeit kaum noch eine Rehabilitation.