Michal: Wie Europa wirklich entsteht
Ein Wandbild der OXI-Bewegung in Athen. Foto: aesthetics of crisis (CC BY-NC-SA 2.0)*
Das Projekt Europa kann nicht von oben installiert werden, meint der Publizist Wolfgang Michal. Die linke Syriza-Bewegung habe den Nationalstaatsbewohnern das vereinte Europa näher gebracht als jede bisherige Alt-Partei. Wie entsteht für euch Europa?
Ein Beitrag von Wolfgang Michal
In einem bemerkenswerten Interview sagte kürzlich der Chefhistoriker der Mächtigen, Herfried Münkler, Europa werde als Elitenprojekt fortgeführt – „oder es wird scheitern“. Würden Krethi (ein Grieche!) und Plethi überall mitreden dürfen, wüchsen nur die zentrifugalen Kräfte, die das schöne Projekt am Ende zerreißen. Doch genau dieses Risiko des Scheiterns ist das Ingrediens, das aus dem einst kalten Thema Europa ein politisch heiß umstrittenes macht.
Noch nie haben die Probleme eines einzelnen Landes die Bevölkerungen anderer Länder so stark interessiert wie heute. Mit dem Wahlsieg der Syriza-Bewegung ist Bewegung ins europäische Haus gekommen. Die Inneneinrichtung Europas wird nicht mehr allein den Eliten überlassen. Im griechischen Referendum konnten wir einen ersten zaghaften Ansatz zur Formulierung einer Alternative erkennen. Und durch das Referendum erlebten wir erstmals eine Solidarisierung (und Polarisierung) der Menschen quer zu den europäischen Nationalstaaten: Auf den Straßen von Irland bis Italien feierten die Verteidiger der griechischen „Nein“-Politik ihre Helden; an den Stammtischen von München bis Riga regierten die Anhänger der harten Linie gegen die „Verschwender“ des Südens. Zum ersten Mal gab es in der EU so etwas wie eine innereuropäische Auseinandersetzung, zum ersten Mal gab es zwei politische Lager, die sich konfrontativ gegenüber standen. Für die Verfechter der alten Europapolitik der Eliten (etwa die Brüsseler Apparatschiks Martin Schulz oder Rolf-Dieter Krause) war das ein Graus, für diejenigen, die die sozial blinde Politik der großen Koalition in Brüssel satt haben, war es eine Erlösung. Syriza – das muss man der aus der Not geborenen Bewegung lassen – hat den Nationalstaatsbewohnern das vereinte Europa näher gebracht als jede bisherige Alt-Partei (einschließlich den Grünen). Syriza hat das Projekt Europa aus seinem Dornröschenschlaf geweckt.
Ein solches Projekt kann nicht von oben installiert werden, wie dies in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch möglich schien. Sollte dieser veraltete Politik-Ansatz jedoch weiterhin versucht werden – und dafür spricht das jüngste „Einigungspaket“ mit Athen – wird der Aufstand der Griechen nur der Anfang der kommenden Aufstände gewesen sein. Nicht die Bevölkerungen müssen ausgetauscht werden, die Politik in Brüssel und in den nationalen Hauptstädten muss eine grundlegend andere werden. Es ist ein Trugschluss zu glauben, die Griechen hätten sich mit der Einigung wieder nur Zeit gekauft, nein, es ist die Troika, es sind die durch die Troika vertretenen Sonder-Interessen, die sich immer weitere Zeit kaufen. Der Konflikt selbst bleibt ungelöst.
Der nächste Aufstand wird deshalb dramatischer ausfallen als der jetzige, der übernächste könnte in einen Bürgerkrieg münden. Wer die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika studiert, wird sehen, dass auch dieses Projekt nicht von heute auf morgen auf dem Papier entstanden ist, sondern nach harten Auseinandersetzungen im Rahmen eines ökonomisch-politischen Nord-Süd-Konflikts.
Hinweis: Dieser Crosspost erschien zunächst am 13. Juli 2015 auf wolfgangmichal.de. Zum Thema siehe auch Michals Text: "Ein vereintes Europa kann nur durch einen revolutionären Akt entstehen" (2011)
Links zur Debatte
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Mayte Schomburg: #EUremix: Keine Demokratie ohne Streit
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Ulrike Guérot: United we stand?
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Project for Demoratic Union: Schäuble - Der letzte deutsche Patriot
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Redaktion: Eurokrise: Welche Rolle soll Deutschland spielen?
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Redaktion: Wie berechtigt ist linke Kritik am Euro?
Herr_Gathmann
Sie führen durchaus ein gutes Argument an und zwar, dass die Situation rund um die Griechenlandrettung eine ungelöste parteipolitische Komponente hatte und auch weiterhin hat.
Meiner Meinung nach hat jedoch die europaweite Sympathie für Syriza unmittelbar vor und nach dem Referendum mehrere Katalysatoren gehabt und ich bezweifle, dass das Näherbringen eines geeinigten Europas tatsächlich dabei war. Vielmehr ist die "Alternative" von Syriza - wobei man sich zurecht fragen kann, welche Art von Alternative ein simples "Nein" tatsächlich ist - vor allem an der Vermittlung gescheitert.
Um der Diskussion mal einen zusätzlichen inhaltlichen Drive zu verleihen: Wie müsste sich denn die Politik Brüssels und in erster Linie die der europäischen Hauptstädte ändern? Hier bewegt man sich in einem unsicheren Spagat zwischen der Akzeptanz der Bevölkerung für eine notwendige Neuordnung der EU und der Implementierung eben jener neuen Institutionenarchitektur. Denn im momentanen Setting der Institutionen Kommission, Rat und EP ist für eine wirkliche Auseinandersetzung parteipolitischer Alternativen kein Platz, insofern decken sich unsere Diagnosen. Die wohl kurzfristig wirksamste Lösung wäre der politisch und juristisch große Schritt, das Parlament dem Rat überall auf Augenhöhe entgegen zu stellen und gleichzeitig die Besetzung der Kommission zu politisieren, sodass diese sich bei ihrer Arbeit tatsächlich auf eine politische Parlamentsmehrheit stützen muss.
Ob diese theoretische Überlegung aber der breiten europäischen Bevölkerung und nicht nur den Bildungs- und Netzeliten, die sich im Zuge des Referendums zu Wort meldeten, zu vermitteln ist, ist und bleibt der Knackpunkt der gesamten Debatte. Und der Umgang der Europäischen Bürgerinnen und Bürger mit der Europawahl zeigt dabei in eine Richtung, die nicht zwangsläufig auf ein klares "Mehr" an institutioneller Integration hoffen lässt.